Criminal Law, Evidence, Murder, Police and Prosecutors, Soering, True Crime

Das Spiegelkabinett von Sörings wechselnden Geständnissen

“Oh, was für ein verstricktes Netz wir weben, wenn wir zuerst die Täuschung üben.”
~Sir Walter Scott

Herr Oehmke stellt eine interessante Frage in seinem Kommentar zum letzten Beitrag:

“Offenbar ist ja unstreitig, dass einer der beiden mit „Hotel und Kino“ vor der Tat ein Alibi konstruiert hat, und das müsste, wenn EH Täterin war, JS gewesen sein, und scheinbar hat er das auch nicht abgestritten. Wenn ich Sie richtig verstehe, führt eine solche Hilfestellung vor Tatausführung dazu, dass der accessory wie der principal bestraft wird. Hätte dann nicht JS auch nach seinem eigenen Vorbringen zu Recht gesessen?”

Gute Frage! Es hängt davon ab, welches Vorbringen von Söring als Grundlage dient. Laut seinen Geständnissen aus dem Jahr 1986 ist er eindeutig als Haupttäter (principal) schuldig, und Haysom ist accessory before the fact (Strafe: ggf. lebenslänglich).

Aber natürlich hat Söring diese Geständnisse “widerrufen”. Laut seiner Prozessaussage von 1990 hatte Söring keine Ahnung, dass Elizabeth es vorhatte, die Haysoms zu töten. Er war völlig davon überrascht. Er hat aber geholfen, die Tat nachher zu vertuschen. Das aber ist nur Beihilfe nach der Tat. Wenn die Geschworenen ihm also geglaubt hätten, hätte er lediglich wegen Beihilfe nach der Tat (1-5 Jahren) verurteilt werden können. Also ja, er hätte gesessen, aber nicht wegen Mordes. Aus genau diesem Grund gab es einen Streit bei Sörings Prozess darüber, ob den Geschworenen die Möglichkeit gegeben werden sollten, Söring lediglich als Mittäter nach der Tat zu verurteilen. Aber das ist ein ziemlich komplexes Thema (ich kann’s aber besprechen, wenn Interesse besteht).

Herr Oehmkes Kommentar offenbart ein weiteres Problem mit Sörings Aussage. Bei seiner Aussage pochte er auf die Beweise, die seine Anwesenheit in Washington, DC zur Tatzeit vermeintlich belegen sollen. Er hat die Kinotickets, die Kreditkartenbelege, Room-Service Quittungen usw., die er fünf Jahren später bei seinem Prozess ins Feld geführt hat, aufbewahrt. Aber warum? Wenn er keine Ahnung von Elizabeths Mordpläne hatte, warum hat er ein Alibi für sie geschaffen, und die Belege 5 Jahre lang aufbewahrt?

Da steht Söring vor einem Dilemma. Er will die Belege als Beweisstücke bei seinem Prozess einsetzen, um sein Alibi zu untermauern. Aber laut seiner eigenen Aussage hatte er gar keinen Grund dazu, ein Alibi für den gesamten Abend zu schaffen. Er wusste zum relevanten Zeitpunkt (nachmittags am 30. März 1985) lediglich, dass Elizabeth sich mit ihrem Drogendealer treffen musste, um “Drogen” abzuholen, die am nächsten Tag (Sonntag) nach Charlottesville transportiert werden sollten. Elizabeth fuhr also gegen 15:00 Uhr los (sagen wir mal), und würde wahrscheinlich eine Stunde später (sagen wir mal) zurückkehren.

Elizabeth würde also ein Alibi nur für diese eine Stunde benötigen. Aber das Alibi erstreckt sich über fast 8 Stunden! Laut Alibi haben die beiden drei Filme an diesem Abend gesehen: Witness, Stranger than Paradise, und The Rocky Horror Picture Show (um Mitternacht), und inzwischen Room Service bestellt. Daher deckt das Alibi die Zeit von ca. 17 Uhr am 30. März bis ca. 2 Uhr morgens am 31. März.

Warum musste das Alibi eine derart lange Zeitspanne decken? In unserem Universum wissen wir den Grund: Weil Elizabeth das Alibi aufgestellt hat, und das Alibi musste Söring’s ganze 600km Fahrt von Washington, DC nach Loose Chippings decken.

Aber wechseln wir zurück nach Sörings Paralelluniversum. Hier wusste Söring gar nicht, dass Elizabeth es vorhatte, nach Loose Chippings zu fahren und ihre Eltern umzubringen. Trotzdem hat er, Söring, ein Alibi für 8 Stunden geschaffen, in dem er jeweils 2 Kinokarten fur 3 Filme gekauft hat, Zimmerservice für 2 bestellt hat, usw.

Warum?

Der Staatsanwalt hat natürlich diesen eklatanten Logikfehler während Sörings Kreuzverhör angesprochen. Söring meinte, etwas hilflos, dass er aus zwei Gründen die Kinotickets und Zimmerservice für zwei gekauft und die entsprechenden Belege jahrelang aufbewahrt hat. Erstens habe er die Tickets gekauft und Zimmerservice bestellt, weil er Elizabeths Eltern auf Anfrage beweisen wollte, dass Elizabeth während des Aufenthalts in Washington DC keine Drogen genommen habe. Zweitens habe er die Belege aufbewahrt, weil er von seiner Natur her ein Hamsterer sei. Natürlich fragte der Staatsanwalt, wie Kinotickets und Zimmerservice-Rechnungen beweisen könnten, dass Elizabeth keine Drogen genommen hat. Söring hatte keine überzeugende Antwort. Er steckte fest in seinem Spiegelkabinett.

Wieder mal sehen wir, warum die Jury Söring nicht geglaubt hat: Nicht weil sie befangen oder dumm war, sondern weil Sörings Geschichte unglaubwürdig war. Und ist.

6 thoughts on “Das Spiegelkabinett von Sörings wechselnden Geständnissen”

  1. Sehr geehrter Herr Hammel!
    War es nicht so, dass laut J.Söring die angebliche Drogenübernahme in DC plus anschließende Lieferung der Ware nach C’ville an einem einzigen Tag, also jenem Samstag,dem 30.03.85, stattfinden sollten? Also das die Lieferung nach C’ville nicht erst am nächsten Tag, dem Sonntag, geplant war? Dann würde es mehr Sinn machen, ein 7-8-stündiges Alibi für die 2. Person zu kreieren. Laut Sörings Version war der Grund der Schaffung des falschen Alibis, falls irgendwas bei der Drogensache schieflaufen würde. Der 2. Grund war, gegebenenfalls die Abwesenheit von E.Haysom ihren Eltern gegenüber verschleiern zu können.
    Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.
    Freundliche Grüße
    Mike Schmiedel

    1. Sehr geehrte Herrn Schmiedel — Nein, die Drogen sollten am 30. März in Washington abgeholt werden, und erst am 31. März nach C’ville transportiert werden. Laut Sörings Aussage bei seinem Prozess (18. Juni, 1990, S. 58): “I went up to the room, watched TV, waited — I mean I was expecting her, from what she said to really arrive at around that time [um ca. 19 Uhr]. I don’t have experience with that sort of thing, I don’t know how long I lasts, so expecting her back, and she didn’t come, and I waited some more, and it must have been around 9:00, somewhere during that time that I ordered room service.”

      Es ist aber durchaus möglich, dass Söring im Laufe der Zeit etwas anders erzählt hat; seine Version bleibt ein Work-in-Progress, und wird mit jeder neuen Entdeckung bzw. kritische Nachprüfung entsprechend abgeändert und umformuliert.

      1. Sehr geehrter Herr Hammel! Danke für die Information! Ich kannte diese Aussage, welche sie oben zitieren, noch nicht. Die einzigen Informationen von den beiden Prozessen 1987/1990 in VA habe ich nur aus dem Film “Das Versprechen”/Steinberger/Vetter und aus dem Buch “Unschuldig”/Söring. Offensichtlich hatten Sie, Herr Hammel, direkten Zugang zu den Prozessakten, die einem Normalbürger eher schwer möglich sind.

      2. Vielen herzlichen Dank Herr Hammel! Ich werde mir die Artikel in Ruhe durchlesen. Es ist ja doch etwas umfangreicher.

  2. Vielen Dank für die ausführlichen Berichte Herr Hammel. Ich lese gerade das Buch “nicht schuldig” von J.S. und parallel hier ihre Berichte. Es gibt leider wenige Infos über Elisabeth Haysom. Gibt es von ihr auch Interviews während der Haft oder nach der Entlassung? Es wäre interessant zu wissen wie sie die Situation von J.S. einschätzt. Ist Ihnen da irgendetwas bekannt?
    Mit freundlichen Grüßen
    O. Brunner

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